Das Kriegsende in Sprendlingen

Zusammengestellt von Wilhelm Ott im März 2020

 

Vor ca. 75 Jahren, am Abend des 22. März 1945 überquerten zwei amerikanische Bataillone bei Oppenheim den Rhein und bildeten dort gegen schwachen Widerstand deutscher Truppen einen Brückenkopf. Über zwei Pontonbrücken konnten dann die Panzer der 4. und 5. US-Panzerdivision auf das rechtsrheinische Gebiet vordringen. Ein deutscher Gegenangriff scheiterte am 23. März. Danach konnten die Amerikaner rasch nach Osten vorstoßen. Am 24. März erreichten sie Groß-Gerau. Am 25, März wurde Egelsbach und Langen besetzt. Am 26. März setzten die Amerikaner ihren Vormarsch fort und nahmen Sprendlingen kampflos ein. Versprengte Truppen konnten das weitere Vorrücken nach Norden nur unwesentlich aufhalten. Am Nachmittag war Neu-Isenburg besetzt und am späten Nachmittag überquerten die Amerikaner den Main in Frankfurt. 

Im deutschen Wehrmachtsbericht konnte man darüber lesen: "Aus dem Raum südlich von Frankfurt schiebt sich stärkerer Feind gegen den unteren Main vor. Offenbach ging nach schweren Straßenkämpfen verloren. Auch im Südteil Frankfurts wird gekämpft." Der Bericht der 6. Panzerdivision ist etwas ausführlicher: "26. März 1945: Die Kampfeinheit (Hansen) setzte ihren Angriff in Verbindung mit Abteilungen des 359. Infanterie-Regimentes in nordöstlicher Richtung fort, um Langen einzunehmen. Die Einheit nahm dann Sprendlingen ein und traf dann auf schweres Artilleriefeuer aus den Wäldern im Norden. Die Einheit teilte sich in zwei Säulen, deren eine (Roth) entlang der Landstraße Sprendlingen-Neu-Isenburg, die andere (Tillman) in Richtung Offenbach angriff. Eine Aufklärungsabteilung stieß von Langen nach Offenbach vor, umging Widerstand bei Götzenhain, gelangte nach Dietzenbach und schwenkte über Heusenstamm in die Hauptangriffsrichtung ein. Die Kampfeinheit schloss schnell nach Offenbach auf und nahm die Stadt gegen leichten Widerstand ein, der Main wurde um 15.30 Uhr erreicht." (Zitate aus Alfred Kurth, "Stadt und Kreis Offenbach in der Geschichte", 1998)

Nahrgang-AtlasDer Heimatforscher Karl Nahrgang publizierte in seinem Atlas "Stadt und Landkreis Offenbach a.M." eine Tafel, in der die Situation des Kreises Offenbach im 2. Weltkrieg in sehr verdichteter Form dargestellt wird. Die Bombenteppiche und Einzelabwürfe sind zuerkennen. Interessant sind auch die Einträge für Flakstellungen und die dazugehörigen Horch- und Scheinwerferstellungen. Für das Thema ist die Flakstellung im Wilhelmshöfer Feld in Sprendlingen von Bedeutung. An anderer Stelle dieser Website kann man Originalfotos dieser Flugabwehreinheit abrufen. Die Flakkanonen dort waren im Gegensatz zu den Geschützen in den Batterien in Neu-Isenburg mobil, sie wurden als die Amerikaner vorrückten an den Waldrand Richtung Neu-Isenburg verlegt, wo sie zur Panzerbekämpfung eingesetzt wurden. 

Es gibt drei besondere Zeitzeugenberichte zu diesem 26. März 1945. Der eine stammt aus Arno Baumbuschs "Jugenderinnerungen", der andere aus  Hans W. Wolffs "Lausige Zeiten" (unveröffentliches Manuskript). Arno Baumbusch (Jahrgang 1931) war in Neu-Isenburg geboren, Die Familie war ausgebomt und kam bei Verwandtschaft in Sprendlingen unter. Er berichtet die Ereignisse aus dem Sprendlinger Blickwinkel. Eine etwas ausführlichere Beschreibung ist im "Sprendlinger Mosaik" nachzulesen. 
Hans W. Wolff (Jahrgang 1926) befand sich an diesem Tag ebenfalls in Sprendlingen, nur war er als Soldat am Waldrand Richtung Neu-Isenburg eingesetzt, um die Amerikaner aufzuhalten. Für ihn war an diesem Tag der Krieg ebenfalls zu Ende und die schwere Zeit der Gefangenschaft begann. Wir danken Hans W. Wolff für die Erlaubnis, seine schriftlichen Erinnerungen hier wiedergeben zu dürfen. Er hat sich nach seinem aktiven Berufsleben einen Namen als hessischer Mundart-Autor gemacht. Siehe http://sprachwolff.de/
Lore Schwarz geb. Anthes (Jahrgang 1934) erlebte das Kriegsende in Sprendlingen als 11jähriges Mädachen. Sie interessiert sich heute für heimat- und  familienkundliche Themen. Insbesondere nimmt sie Anteil am Schicksal der vertriebenen und ermordeten jüdischen Mitbürger Sprendlingens. Zu diesem Thema verfasste Sie einen Bericht, in dem sie Ihre Erinnerungen an diese schlimme Zeit dokumentierte. Auf  Bitte des Vorstands der Freunde Spendlingens berichtete sie über das Kriegsende in Sprendlingen, was auf dieser Seite weiter unten publiziert wird.


Arno Baumbusch 

Der sogenannte Volkssturm, alles alte Männer und HJ-Buben, wurde jetzt zu den Waffen gerufen. Notdürftig ausgebildet am Karabiner 98 und der Panzerfaust, sollten sie noch einmal das Kriegsglück wenden. Die Flakbatterie, die auf dem Wilhelmshöfer Feld stand, war am Waldrand in Stellung gegangen. Aber was waren das für Soldaten, die diese Geschütze bedienen sollten? An jedem Geschütz ein invalider Flaksoldat und sonst nur Heimatflakler, 15 bis17 jährige HJ-Buben. In der Ferne hörte man schon das Donnern der Artillerie unserer Feinde, und das erzeugte Furcht vor dem, was da auf uns zukam. Tiefflieger schossen am Tag auf alles, was sich da unten bewegte. Manchmal sah man auch SS-Soldaten auf Fahrrädern, an denen zwei Panzerfäuste hingen, aber die verzogen sich bald wieder.

In der Nacht vom 24. zum 25. März marschierten lange Kolonnen von Kriegsgefangenen auf der Herrnrötherstraße in Richtung Offenbach. Sie wurden bewacht von älteren deutschen Soldaten mit langen Flinten, bestimmt aus dem ersten Weltkrieg. Die dafür bestimmte Munition fanden wir am nächsten Tag im Straßengraben. Auf Drückkarren schoben die Gefangenen ihre Habseligkeiten, und vor unserer Dreschhalle brach eine Speiche vom Rad eines Karrens entzwei. Wir gaben ihnen Draht, dass sie es wenigstens wieder notdürftig in Ordnung bringen konnten.

Am 25. März hörten wir das Schießen der Artillerie schon viel näher. Gegen Abend verstummte es wieder, und die folgende Nacht verlief auffallend ruhig. Am frühen Morgen hörte man in Richtung Langen das Brummen eines kleines Flugzeugmotors. Es stellte sich bald heraus, dass es von einem amerikanischen Artillerieaufklärer stammte. Jetzt wussten wir Bescheid, es konnte nicht mehr lange dauern und sie würden vor den Toren von Sprendlingen stehen. Würde es eine Schießerei geben oder alles glimpflich verlaufen? Später stellte sich heraus, dass die Panzersperre von selbstbewussten Bürgern nicht geschlossen worden war. Die sogenannten Spitzen der Partei hatten unter Mitnahme des Feuerwehrautos das Weite gesucht.

Was war aus unserer Panzersperre am Ortseingang geworden? Später erfuhren wir, die Amerikaner hatten sie ganz einfach umfahren. Sie fuhren die Hainer Chaussee hoch, bogen zur Theisenmühle ab und gelangten durch die damals noch vorhandene Hohl auf die Herrnrötherstraße, fuhren auf die Hauptstraße zurück und standen kurz darauf vor dem Rathaus. Bis dahin war alles ruhig gewesen, aber jetzt fing die deutsche Flak am Waldrand an zu feuern, und zwar auf die in der Offenbacher Straße vorrückenden Panzer. Diese zogen sich sofort zurück, und dabei schlugen auch einige Geschosse der Flak im Ort ein. Sie verursachten aber nur ganz geringen Sachschaden. Ein Panzer wurde beim Abdrehen in die Seite zwischen den Ketten getroffen und brannte aus. Er stand in der Offenbacher Straße, dort, wo damals rechts der Weg abzweigte in Richtung Wald (Säu-Farm). Später haben wir uns dieses Wrack natürlich genau angesehen. Es war mehrmals getroffen und hatte an der Vorderseite tiefe Kerben von Flugabwehrgeschossen, die die Panzerung nicht durchschlagen konnten. Panzerbrechende Granaten waren vermutlich nicht mehr vorhanden. ..... 

Ohne dass die amerikanische Artillerie geschossen hatte, erledigte sich das Thema der deutschen Flakstellungen am Waldrand von selbst. Sämtliche Flakgeschütze wurden, nachdem sie keine Munition mehr hatten, von ihren Bedienungen durch Rohrkrepierer zerstört. Die deutschen Soldaten ergaben sich ihren Feinden. Es war ein trauriger Haufen, der da mit den Händen über dem Kopf von schwer bewaffneten Amerikanern abgeführt wurde. Überwiegend Heimatflakler, 15 bis17 jährige Buben, darunter aber auch verwundete deutsche Soldaten, die aus den Sprendlinger Lazaretten in den Wald geflüchtet waren. Sie hatten bestimmt die amerikanischen Flugblätter gelesen, die über unserem Ort in Massen abgeworfen wurden. Auf ihnen stand: „Deutscher Soldat, lege deine Waffen nieder und komme mit erhobenen Händen und mit den Worten - ei surrender - auf uns zu.“ Am Nachmittag war der größte Teil der amerikanischen Truppen weitergezogen, und was jetzt kam, verblüffte uns ganz gewaltig. Fahrzeug an Fahrzeug, Kolonne an Kolonne wälzte sich durch den Ort, und da wollten wir mit unseren paar Holzvergasern den Krieg gewinnen.


Hans W. Wolff

Hams W. WolffAm 25.März wurden wir in Marsch gesetzt. Es hieß, die Amerikaner seien bei Oppenheim über den Rhein, und wir sollten sie aufhalten. An einem Waldrand links und rechts der Straße zwischen Neu-Isenburg und Sprendlingen gingen wir in Stellung. Zwischen den Geschützen einer für den Erdkampf vorbereiteten Flakbatterie gruben wir unsere Panzerdeckungslöcher.

Der 26. März 1945: Ein Kamerad und ich hatten gerade in einer Zeltbahn die Verpflegung für unsere Gruppe abgeholt, als wir Motorengeräusch hörten. Über den Häusern von Sprendlingen erschien ein langsam und niedrig fliegendes Beobachtungsflugzeug der Amerikaner. Wir suchten Deckung. Die Maschine zog mehrere Kreise über unserem Waldstück und den Feldern vor Sprendlingen. Die Flak schwieg.

Nach einer Weile drehte das Flugzeug ab. In sein leiser werdendes Brummen mischte sich ein neuer Ton. Ein Rasseln und Klirren, das allmählich anschwoll. Wir rannten zu unseren Deckungslöchern neben einer Achtachtflak. Links und rechts geriet alles in Bewegung, als die Grenadiere ihre Gefechtsstellung besetzten. Die Flaksoldaten neben uns legten Granaten zurecht. Der Richtschütze hantierte an seinem Zielgerät. In Sprendlingen bauschten sich weiße Bettlaken unter den Fenstern, stumme Bitten um Schonung.

Da, jetzt rollen die amerikanischen Panzer aus Sprendlingen heraus. Einer schert nach rechts aus, einer nach links, aufs freie Feld. Das gleiche tun die nachfolgenden Shermans. Nun drehen sie auf uns ein und rollen in breiter Front auf den Wald zu. Aus dem Ort quellen immer neue Tanks und nun auch Infanterie auf Lkw. Einige GI’s springen von ihren Fahrzeugen. Ein Blick nach links und rechts. Alle verharren wie gelähmt hinter ihren Waffen.

Plötzlich Bewegung rechts. Ein älterer Soldat verlässt sein Deckungsloch, dort noch einer, da links eine ganze Gruppe. Sie rennen nach hinten, einige werfen die Gewehre weg.

Da kracht der erste Schuss. Es ist die Achtacht neben uns. Der Einschlag liegt dicht neben einem der näherkommenden Panzer, Ich starre auf den Richtschützen, der an seinem Gerät kurbelt, das Auge an die Optik gepresst, während der Ladekanonier die nächste Granate in die Verschlussöffnung rammt. Feuer! Das Geschoss trifft, der Turm platzt ab, legt sich schief auf den Panzer, der bleibt stehen, zwei Amis booten aus, eines unserer MG jagt zwei, drei Feuerstöße hinüber. Die Flakkanoniere brüllen ihren Triumph heraus. Da, ein zweiter Panzer wird getroffen, er brennt!

Doch schon wendet sich das Blatt. Die Amerikaner haben unsere Stellung erkannt. Panzergranaten schlagen vor und hinter uns ein, lange Schnüre roter Leuchtspurgeschosse fliegen auf uns zu. Ein Einschlag wirft eine Ladung Erdbrocken über uns. „Stellungswechsel“ schreit mein Kamerad. Ich springe zu ihm hinüber. Die unablässig feuernden Panzer sind heran. Wir müssen zurück. Mit einigen Sätzen sind wir im Waldinneren. Überall Einschläge. Die Leuchtspurgeschosse flirren vor unseren Augen.

Plötzlich Stille. Wir hasten weiter. Dort durchschneidet eine Querstraße den Wald, etwa parallel zu unserer verlassenen Stellung. Wir robben uns heran. Da! Rechts und links von uns, etwa 200 Meter entfernt, dringen amerikanische Infanterietrupps über die Straße in das jenseitige Waldstück ein. Wir kriechen zurück und versuchen es weiter links noch einmal. Dort ist der Waldrand. Behutsam biegen wir die Zweige eines Buschs beiseite und erstarren: Vor uns, keine dreißig Meter weit weg, steht ein Sherman, in der offenen Turmluke sein Kommandant. Hinten, auf der Straße nach Frankfurt, Panzer hinter Panzer, endlose erdbraune Kolonnen. Wir ziehen uns in den schützenden Wald zurück. Dort stoßen wir auf einen tiefen Granattrichter, in dem wir uns verbergen.

Wir beratschlagen und beschließen, uns zu ergeben. Uns fällt ein, dass ich gestern eines der Flugblätter eingesteckt habe, die über Frankfurt abgeworfen wurden. Es sind Passierscheine für Soldaten, die sich gefangen geben wollen. Ich ziehe den Schein aus der Tasche, und wir proben das Schlüsselwort: We Surrender! Mein Kamerad verlässt den Trichter, um einen Haselstecken abzuschneiden. An seiner Spitze befestigen wir mein Taschentuch. Dann schwenken wir die Fahne über dem Trichterrand hin und her und rufen: „We Surrender!“

Nach einigen Minuten nähert sich Motorengeräusch. Über den Rand unseres Verstecks sehen wir einen Jeep mit zwei GI’s. Immer noch geduckt, schwenken wir weiter. „Come on, mak snell!“ Da stehen sie groß am Trichterrand, ihre Karabiner auf uns gerichtet. Wir heben die Hände.

So ging der Krieg für mich in Frankfurt zu Ende. Ich war 19 Jahre alt. Meine Familie, die nur ein paar Kilometer entfernt wohnte, sah ich erst nach eineinhalb Jahren Gefangenschaft wieder. Aber wir hatten alle überlebt.


Lore Schwarz
Wie ich als Kind das Kriegsende 1945 erlebte

Lore Anthes 1945Der letzte Sonntag im März 1945 war ein unruhiger Sonntag, mein Großvater wusste, dass die Amerikaner in der Nacht zum Freitag bei Oppenheim über den Rhein gekommen waren. Woher er das wusste weiß ich nicht, aber ich weiß dass er immer BBC London gehört hat. 

Frankfurter Str. 15Am Sonntagnachmittag, den 25. März 1945 war ich mit meiner Mutter zu Besuch bei ihrer Tante in der damaligen Forsthausstraße – heute Konrad-Adenauer-Straße. Gegenüber dieser Straße waren Wiesen, die Niederwiesen, die bis an Buchschlag grenzten. Von den Wiesen stieg plötzlich Nebel auf, obwohl es eigentlich ein schöner Sonntagnachmittag war. Meine Mutter war beunruhigt und meinte der Nebel wäre nicht normal, der ist gemacht. Sie meinte, dass die Wehrmacht die eine Scheinwerferstellung im Breitensee hatte, den Nebel gelegt hätte. Daher sind wir schnell nach Hause gelaufen. Wir wohnten in der Frankfurter Straße 15.

Die Nacht verbrachten wir wegen der Fliegerangriffe, wie immer in den letzten Monaten im Keller. Mein Großvater hatte eine Art Bett für meine Cousine und mich errichtet. Mein Bruder, meine Oma und die anderen Erwachsenen, das waren meine Mutter, meine Tante, die mit meiner 5-jährigen Cousine und ihrer kranken Oma aus Landau in der Pfalz bei der sie Zuflucht gesucht hatten vor den Bombenangriffen auf Stuttgart. Da Landau aber nahe an der französischen Grenze lag und der Krieg immer näher kam, kamen sie zu uns nach Sprendlingen. Mein Großvater blieb in der Wohnung im ersten Stock, auch die bettlägerige Großmutter blieb im Zimmer.

 Da wir den Einmarsch der Amerikaner erwarteten hatten wir ein weißes Bettlaken zum Zeichen des friedlichen Ergebens im 1. Stock an den Fenstern mit den Blumenkästen angebracht. Unser Nachbar im Haus Frankfurter Straße 13 hatte ebenfalls weiß geflaggt. Am Morgen des 26. März 1945 gegen neun Uhr kamen die Amerikaner von Langen her die Frankfurter Straße entlang. Es ging ein amerikanischer Soldat in der Mitte der Straße und je einer links und rechts auf dem Bürgersteig mit vorgehaltenem Gewehr. 

Mein Großvater, meine Mutter, mein Bruder und ich standen mit Nachbarn vor unserem Hoftor. Als die Amerikaner vor unserem Haus waren, zeigte der Soldat, der in der Mitte der Straße ging, auf meinen Bruder Günter und fragte: „Du Soldat?“ Sogleich antworteten alle die dabei standen NEIN, NEIN! Günter, der 16 Jahre alt war, hatte einen alten Wollmantel von meiner Mutter an und die Amerikaner glaubten einen desertierten, verkleideten Soldaten vor sich zu haben. Aber es ging gut aus. 

Dann rückten Panzerspähwagen nach und die parkten einer hinter dem anderen rechts auf der Frankfurter Straße. Die Leute standen immer noch auf der Straße und sahen dem Aufmarsch zu. Es waren mehrere Männer, wie unsere Nachbarn der Metzgermeister Kunz sein Mieter Ludwig Schwarz, der Hausherr der Nr. 19 Wilhelm Schäfer, genannt „Wehnehellem“, mein Großvater Georg Anthes 5. und mein Bruder Günter.

 Eine Flakstellung, die im heutigen Industriegebiet an der Offenbacher Straße vorm Wald lag, schoss auf die einrückenden amerikanischen Panzer. Zwei Amerikaner flohen von ihrem Panzerwagen in unsere Toreinfahrt und suchten Schutz unter den dort abgestellten Drückkarren. Dies versetzte meinen Großvater in Erstaunen. Die Amerikaner fuhren weiter, aber die Flak feuerte noch immer Geschosse ab. Ein Geschoss schlug am Rand des Bürgersteiges ein und ein Splitter streifte die Mütze des immer noch vor dem Hause Kunz auf der Straße stehenden Wehnehellem und schlug dann im Kandelrohr ein. Gottseidank ist ihm nichts weiter passiert.

 Es schlugen auch mehrere Geschosse im Gässchen neben unserem Haus ein. Und eines davon auch im Schuppen neben unserem Hühnerstall. Dort hatte mein Opa unsere Wurst- und Fleischkonserven aus unserer schwarzen Hausschlachtung einige Wochen vorher vergraben. Er meinte, wenn die zurück marschierenden Soldaten kämen, würden diese nach Essbaren suchen. Wir glaubten unsere Vorräte an einem sicheren Ort. Zum Glück wurden diese nicht beschädigt.

 Am Nachmittag kam ein Amerikaner mit Gewehr in unser Haus und ging von Zimmer zu Zimmer. Die Amerikaner suchten nach versteckten Soldaten. Im Wohnzimmer meiner Großeltern hing ein Bild vom Reichspräsidenten Friedrich Ebert, so wie in anderen Wohnungen das Hitlerbild hing. Der Amerikaner blieb lange davor stehen und sah es sich an ob er wusste wer das ist wissen wir nicht. Er ging auch in das Zimmer von der kranken Oma aus Landau, die dort im Bett lag. Als er sie sah, ging er sofort zurück und schloss die Tür. Er hatte Anstand.

 An einem anderen Tag kam Otto Koch, unser Nachbar aus der Frankfurter Straße 26. Er hatte etwas in der Hand, zeigte es mir und wollte wissen was das ist. Es war ein Würfel, der weiß war und einen braunen Rand hatte. Ich sagte: „Es sei Speck“, aber der Herr Koch lachte und meinte: „Nein das ist amerikanisches Weißbrot“. Da konnte ich nur staunen.

 In den kommenden Wochen kamen führende amerikanische Offiziere zu meinem Großvater ins Haus. Da er Sozialdemokrat war und unter der NS-Führung unserer Gemeinde in den Jahren der Nazizeit sehr zu leiden hatte, war er jetzt ausgesucht worden, die Amerikaner beim Neuanfang in Sprendlingen zu beraten. Er wurde zu den Nazi Größen im Ort befragt und diese wurden aus der Verwaltung entfernt und von neutralen Personen besetzt. Auch die Polizisten wurden entlassen und durch Sozialdemokraten und Kommunisten vorübergehend ersetzt.Antrag SPD-Neugründung

 Mein Großvater war bei der Entnazifizierung-Kommission und gehörte lange dem Gremium an. Am 8. September 1945 schrieb mein Opa „An die Militärregierung Sprendlingen“ und bat diese um „Erlaubnis den Ortsverein Sprendlingen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gründen zu können und mit der als erlaubt bekanntgegebenen Partei an die Öffentlichkeit treten zu dürfen.“

So langsam kehrte ein halbwegs normales Leben bei uns ein. Nachts konnte man ruhig schlafen und brauchte keine Angst mehr vor Fliegeralarm zu haben. Nur der Hunger plagte uns sehr. Die Lebensmittelzuteilung wurde immer schlechter. Aber zum Glück hatten wir einen Garten und einen Acker und konnten Gemüse anbauen und Obst ernten. Das half uns sehr.

 Im Oktober 1945 wurde wieder Schulunterricht erteilt und wir Kinder waren froh, wieder in die Schule gehen zu können und dem Unterricht ohne Unterbrechung durch Fliegeralarm folgen zu können. Eine neue Zeit begann, und wir waren voller Hoffnung auf eine bessere Zeit! 

Aufgeschrieben 2020 von Lore Schwarz geb. Anthes

 


Schreiben von französischen Kriegsgefangenen

französische KriegsgefangeneNicht nur die Einwohner von Sprendlingen waren froh, dass der Krieg für sie am 28. März 1945 zu Ende ging, obwohl es für die meisten kein Tag der Befreiung, sondern eher ein Tag der Niederlage war. Uneingeschränkt konnten sich die in Sprendlingen eingesetzten Kriegsgefangenen freuen, denn für sie stand der Transport in die Heimat in baldiger Aussicht. Allerdings standen die russischen Kriegsgefangene, insbesondere solche, die für Hilfsdienste in der Deutschen Wehrmacht eingesetzt waren, vor einem ungewissen Schicksal. Dem Vernehmen nach war das Verhältnis der Sprendlinger Bevölkerung zu den Kriegsgefangenen durchaus akzeptabel. Dies belegt auch ein Schreiben von französischen Kriegsgefangenen, das den Freunden Sprendlingens 2020 zugänlich emacht wurde. Die deutsche Übersetzung:

Wir, Gefangene des Kommandos 41, sind am 6.8.1940 in Sprendlingen angekommen. Wir haben uns gefreut, den genannten Friedrich Spengler Goethestraße 1, Sprendlingen Kreis Offenbach, kennen zu lernen. Er hat alle alles getan, um unsere Gefangenschaft während unserem Aufenthalt zu erleichtern. Er ist und wird immer ein Freund der Franzosen sein. Zudem bitten wir Gefangene für den Fall einer Besatzung des Landes, dass dieses Schreiben ermöglicht, ihm und seiner Familie Erleichterung zu bringen und ihn als Freund und nicht als Feind anzusehen.
Eine Gruppe der Gefangenen des Kommando 41.
Unterschriften

Bilanz des Krieges für Sprendlingen: 

 

9 tote Zivilpersonen durch Bomben - ca. 25 zerstörte Wohnhäuser - ca. 40 schwer beschädigt - ca. 30 Scheunen und ca. 10 Fabrikgebäude abgebrannt. Außerdem: 318 gefallene Soldaten - 195 Vermisste und 33 Zivilpersonen die auswärts ums Leben kamen. Einen Bericht über Fliegerangriffe auf Sprendlingen ist auf anderer Stelle dieser Website zu finden. 


Vergewaltigungen Sprendlinger Frauen durch US-Soldaten am 27.03.1945

 

Es sollte nicht verschwiegen werden, dass sich beim Einmarsch der Amerikaner in Sprendlingen auch Schreckliches abspielte. Acht junge Frauen wurden durch US Soldaten vergewaltigt. Dokumente aus dem Stadtarchiv ((N) XVI-2-1-11) belegen dies. Es gab aber eine Untersuchung und es wurden entsprechende militärischen Maßnahmen getroffen. Ärztliche Behandlungskosten (Geschlechtskrankheiten, Schwangerschaften) sollten bei der US-Army eingereicht werden. -->HIER kann die deutsche Übersetzung des Berichts vom 30.03.1945 aufgerufen werden.